Urvertrauen

Urvertrauen

August 2018

Alles begann mit diesem Foto.

Dieses Bild steht für den Moment, ab dem sich mein Leben veränderte. Wenn ich es ansehe, bestärkt es mich auf meinem neuen Weg. Denn dann fühle ich es wieder: dieses tiefe und ursprüngliche Urvertrauen – in die Welt, in Korsika, in mich.
Isula Blog Beitrag
Das Foto ist in Paliri entstanden, an der letzten Hütte auf dem Fernwanderweg GR20. Vor mir lag die letzte Etappe bis nach Conca. Hinter mir lagen 2 anstrengende Wochen entlang der höchsten Gipfel Korsikas. Der Blick ist auf die spektakulären Bavella-Türme gerichtet. Ich war glücklich, ich hatte es geschafft. Die Körperhaltung heißt im Yoga „Baum“ – stabil, kraftvoll, verwurzelt, mit der Erde, zugleich flexibel, beweglich, ausgleichend, bereit für den Sturm. 

Und schließlich steht dieses Bild für alles, was dann kam: Korsika, Wandern, Yoga, Natur. Damals wusste ich noch nicht, dass ich meine sicheren Zelte in Berlin abbrechen und in Korsika aufbauen werde. Damals wusste ich noch nicht, dass ich eines Tages Wanderleiterin und Yogalehrerin werden würde. Ich praktizierte zwar seit langem schon Yoga und zeigte gern ein paar Dehnübungen anderen Bergsteiger*innen auf der Hütte. Doch musste ich erst von einer sehr guten Freundin hören, dass ich eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin absolvieren könnte. Den Gedanken hatte ich mir nicht zugetraut. Es war dieselbe Freundin, die meinte, ich soll eine Webseite kreieren oder einen Blog schreiben, um andere an meinen Erfahrungen in der Fremde teilnehmen zu lassen. Danke dafür, Daniela! 

Manchmal sind es die Anderen, die einen Gedanken als klitzekleinen Samen pflanzen. Aus dem Gedanken keimt eine Idee. Aus der Idee wächst ein Gefühl. Und wenn wir bereit sind, dann folgen wir dem Herzen.

Manche Menschen lassen sich vom Unbekannten und Unsicheren abschrecken. Mich hat es magisch angezogen. Ausgewanderte haben immer schon eine Faszination in mir ausgelöst. Meine Reisen waren oft durch ein Suchen nach alternativen Lebensmodellen oder der Flucht aus der entfremdeten Welt des Berufsalltags motiviert. Bei vielen meiner Begegnungen, hätte ich die Möglichkeit gehabt, dort zu bleiben, mitzumachen, in ein Projekt einzusteigen. Doch mir war klar, dass es nicht meins ist. Dass ich nur geduldig sein muss, bis ich etwas Eigenes finden werde. „Wenn es soweit ist, dann wirst du es wissen“, sagte mir ein Aussteiger in Kanada. „Vertrau dir selbst, vertrau der Welt, und lass es auf dich zukommen.“

Ich hatte mein Herz in Korsika und an Korsika verloren. Oder ist meine Wahrheit, dass ich es hier gefunden habe? War es jetzt soweit? In diesem glückseligen Moment an der Paliri Hütte, wo ich inspirierende Gespräche hatte und mir die allesentscheidende Frage gestellt wurde: „Wovor fliehst du? Es ist doch alles da“. 

Die folgenden Tage in Korsika wurden wegweisend. Ich ließ mich nur noch von meinem Gefühl, meiner Intuition und den Begegnungen leiten. In diesem Urlaub tat ich viele Dinge zum ersten Mal, wie Canyoning, Tauchen, Autostop - und vor allem: keinen Plan haben. Tief in mir drin hatte ich dieses erfüllende Gefühl von Urvertrauen entwickelt und lächelte meiner Zukunft entgegen. Auch das war neu für mich. Ich fühlte, dass ich es schaffen kann. Das Wandern hat es mich gelehrt. Schritt für Schritt. Etappe für Etappe. Bergauf und bergab. Der Weg ist das Ziel. Einfach machen. Nicht denken. Wovor fliehst du?

Mein ganzes Tun und Handeln, alle Entscheidungen und Zufälle, jede Begegnung und Situation, führten in die eine Richtung. Als ob mich die Insel rufen würde, mich tröstet, mich willkommen heißt. Willkommen um zu bleiben. Will-kommen. Ja, ich will kommen. Ich bin bereit für den Schritt in ein neues Leben. Wenn nicht jetzt, wann dann. Alle Türen sind offen, und alle führen nach Korsika. 

Ein guter Bekannter schrieb in dieser Zeit: „Wenn dich die Liebe trifft, gib dich ihr hin mit allen Sinnen. Ich wünsche dir eine gute Reise. Erst nach Norden, dann Süden, auf alle Fälle zu dir selbst.“

Ich will nicht sagen, dass alles ein Zuckerschlecken war. Es gab viele Momente, in denen ich zurückgeworfen wurde. Zum einen warteten viele emotionale Herausforderungen auf mich. Vertrauen und Hingabe und die damit verbundene Verletzlichkeit waren neu für mich. Das Aufarbeiten und Loslassen von alten (Verhaltens- und Gedanken-)Mustern ging einher mit der Frage, wie will ich leben und wer bin ich eigentlich, wenn ich so sein darf, wie ich bin. Zum anderen all die praktischen Angelegenheiten des Umsiedelns. Alle, die in Frankreich wohnen oder hierhin ausgewandert sind, können ein Klagelied von der Bürokratie singen. Dann das Problem mit der Sprache… Ich liebe diese Dualität: Der Ort meiner Wahl bietet Stille, Schutz, Sicherheit, und doch bringt er mich in Bewegung, an meine Grenzen – und darüber hinaus. Er fördert und fordert mich. 

Notizen:

Korsika. Komplett allein. Komplett unabhängig von allem und allen. Keine Freunde, keine Sprache, keine Muster, keine Familie. Komplett von vorn anfangen, sich neu erfinden. Ich bin so frei wie noch nie. Wieviel Freiheit halte ich aus? 

Ein langer Weg liegt vor mir. So viele Herausforderungen links und rechts am Wegesrand. Es wird schwierig und vielleicht brauch ich meine Freunde mehr denn je. Vielleicht brauche ich Ruhe mehr denn je. Ich kann nichts falsch machen. Es nicht zu tun, wäre fatal. Raus aus dem Dämmerzustand.

THE ART OF POSSIBILITIES. Flexibel sein. Kreativ sein. Und das unendlich kreative Potenzial des Seins entfalten. Aufgewühlte Energien zulassen. Sie fließen lassen. Das Gefühl der Ungewissheit zulassen. Sei mutig, sei kreativ, sei du selbst. Mache es anders als sonst, aber mach es.

Wovor fliehst du? Wie willst du leben? Und wer bist du eigentlich? Seit ich in Korsika lebe, bin ich diesen Fragen ein ganzes Stück nähergekommen. Ein Leben in der Natur weckt meine weibliche Intuition, stärkt mein Urvertrauen und nährt meine Wesenskraft. Es gibt noch so viel zu entdecken, auszuprobieren und zu lernen. Egal welche Anteile in mir – ob inneres Kind, Wolfsfrau, Feuervogel, Aphrodite, grüne Tara, Kali – sie sollen spielen, tanzen, wachsen, glühen dürfen. 

„Frauen spüren manchmal eine unbestimmte, aber nagende Sehnsucht und rasenden Heißhunger auf merkwürdige Gerichte und Tätigkeiten, die sie nie zuvor auch nur in Erwägung gezogen hätten. Sie fühlt sich gezwungen, allein in die Wildnis hinauszufahren und sich den Wind um die Ohren pfeifen zu lassen, stundenlang in einen sternklaren Himmel zu starren, nackt im strömenden Regen zu tanzen oder vollkommen still in einer Ecke zu sitzen, mitten in der Nacht aufzustehen und Käsetorten zu backen, und tausend Dinge mehr. Kein Grund zur Sorge: Ein neues Selbst ist unterwegs. Das Innenleben, wie wir es bisher gekannt haben, wird von Grund auf umgekrempelt. Und das bedeutet nicht, dass man sich auf dieser Stufe von sämtlichen äußerlichen Aspekten des bisherigen Daseins lossagt, um als Eremitin in einer Berghöhle zu leben. Es bedeutet, dass die früheren Ideale und Ziele ihre Zugkraft verlieren, dass man eine Zeitlang rastlos und unzufrieden ist, weil die Erfüllung einfach nicht in der Oberwelt gefunden werden kann, sondern im verborgenen Wesensgrund heranwächst.“ 
(Clarissa Pinkola Estés in Wolfsfrau)