Gehen bis die Welt stillsteht
Motiv der Reise: Wanderung um das Annapurna Massiv.
Ende der Reise: Lockdown in der ganzen Welt.
14.2.
Mein Kopf ist voll und leer. Zugleich. Absolute Überforderung der Sinne. Meine Augen fallen zu. Stille.
20.2.
Die Dusche ist kalt, die Nächte sind kälter. Wie soll ich das nur auf 5000 hm aushalten. Raus aus der Komfortzone. Die Welt hier ist eine komplett andere. Ich habe erst jetzt verstanden, dass diese Reise, womöglich die Herausforderndste meines Lebens ist. Ich erwische mich stündlich bei der Frage: „Was mache ich hier eigentlich?“ Eigentlich wollte ich nur wandern gehen im Himalaya. Einfach mal so. Habe ich mir überhaupt keine Gedanken gemacht, in welches Land ich fahre. War ich so naiv? Ja, warst du! Doch irgendeine Kraft, irgendetwas hat mich hierhergeholt. Und das ziehe ich jetzt durch.
26.2.
27.2.
Stopp! Der junge Busfahrer wird vom Militär angehalten, er muss aussteigen, seine Papiere zeigen, sie diskutieren heftig, entfernen sich vom Bus. Die mitreisenden Nepalis interessiert es wenig. Scheint normal zu sein. Es ginge gleich weiter. Neugierig steige ich aus, die blonde Touristin, er zeigt auf mich, redet ein paar Worte, und schließlich dürfen wir weiterfahre
5.3.
Momentaufnahmen wie diese:
Ich feire um 6Uhr früh im tibetanischen Kloster mit Mönchen das tibetanische Neujahr 2147 und verschlinge (trotz Durchfallbeschwerden) um 7Uhr früh einen tibetanischen Knödel aus Maismehl.
Ich sehe in einem abgelegenen Dorf, in welches ich mich zufällig verirre, ein Zicklein zur Welt kommen. Meine erste Geburt. Welch Wunder der Natur…
Oder als mir ein junger Töpfer, der alles durch das Erdbeben verloren hat, einen daumengroßen selbstgemachten Buddah schenkt und sagt „Das ist nicht Buddah. Das bist du. Das ist dein Buddah in dir, und der wird jetzt wachsen.“ Und ich anfing zu weinen.
Oder als mich die Schwester eines befreundeten Nepali, mit holprigem Englisch aber viel Herz in ihr Leben führt und mir einen heimlichen Wunsch erfüllt: einen Sari zu tragen. Sie hat den Wunsch in meinen Gedanken gelesen. Nur auf welcher Sprache? frage ich mich.
Doch trotz der unfassbaren Erlebnisse und Entspanntheit holt mich wieder die Angst ein. Sie kommt unerwartet. Während ich im Flow bin, haut sie mich knallhart um: die Angst im Nachtbus, weil es keinen Notausgang gibt; die Angst im Dschungel, wenn das Nashorn tatsächlich nur 10 Meter entfernt ist; die Angst vor der Einsamkeit beim Alleinreisen; die Angst vor Schnee und Eis ab 3000 Metern Höhe:
Annapurna Himal. Endlich ist es soweit. Ab in die Berge und erstmal nicht nachdenken.
15.3.
Auf dem Annapurna Circuit, schon eine Woche unterwegs:
Einer der schönsten Tage überhaupt: Schneewandern nach Wintereinbruch unter strahlend blauem Himmel, die Aussicht unfassbar, überwältigende Natur, diese pure, reine Schönheit habe ich noch nie erlebt. Der Annapurna 2 beobachtet uns allmächtig und erhaben. Langsam, rhythmisch und gleichmäßig, atmen und gehen, Schritt für Schritt. Immer weiter nach oben. Ich fühle mich frei und lebendig. Es gibt nur noch das hier und jetzt. Kein Vermissen, kein Anhaften, kein Was-wäre-wenn, kein Zurück … es gibt kein Zurück mehr.
17.3.
Fast 4000hm. Noch keine Anzeichen von Höhenkrankheit. Doch durch die trockene und kalte Luft und ewiges Schnäuzen bildet sich Blut in der Nase. Mein Gesicht ist aufgedunsen, die Augen angeschwollen, die Lippen sind verbrannt und aufgeplatzt, Schmerzen in den Muskeln, die Kälte zieht durch alle Glieder. Der Rucksack wird mit jedem Höhenmeter schwerer, der Kopf leichter. Aber sonst ist alles ok.
19.3.
Fast 2 Wochen unterwegs. Nach 7 anstrengenden Tagen in Eis und Schnee und bitterkalten Nächten haben wir heute den Pass überquert. 4Uhr aufstehen, 5Uhr los bei -15 Grad und Neuschnee, die letzten 900 Höhenmeter müssen neu gespurt werden. 9:30 erreichen wir den höchsten Pass der Welt auf einer Höhe von 5416hm. Ich fühle mich, ich weiß nicht wie… Frei? In Demut? Erschöpft? Es gibt soviel zu schreiben, doch ich kriege es nicht mehr in Worte und meine Finger sind wie erfroren. Ich spüre die Fingerspitzen nicht mehr…
Es war womöglich die schwierigste Wanderung, wahrscheinlich sogar der schwierigste Tag meines Lebens. Durch das tagelange Wandern im Schnee - keine Kraft mehr. Durch die Höhe - keine Kraft mehr. Die Kälte saugt dir die Kraft aus den Gliedern. Erholsamen Schlaf gibt es schon lange nicht mehr. Duschen schon lange nicht mehr. Seit Tagen nur noch Reis und Knoblauchsuppe. Viele Zweifel überkommen mich… Doch der Humor und das Lachen und die Leichtigkeit unter den anderen Wanderern, lässt mir Flügel wachsen. Die Zweifel und Ängste haben keinen Raum mehr und werden unter dem Schnee begraben.
Heute war ich oft im Mantra: Om mane padme hum. Das hat geholfen. Immer nur auf den nächsten Schritt konzentrieren. Keine Gedanken mehr hier oben. Keine Luft mehr hier oben. Nur Schnee und gleißendes Licht um mich herum und in mir. Ich werde verschluckt von der Geduld und der Weisheit der Berge. Ich werde eins mit ihnen. Sie haben uns nicht gebeten, hierherzukommen…
Drei Tage später beginnt der totale Lockdown in Nepal. Von den parallelen Entwicklungen in Europa hatten wir nichts mitbekommen im Himalaya. Die Welt steht still, doch die Füße wollen weiter.
Nach 10 Tagen und einer abenteuerlichen Reise von Gandruk nach Pokhara und Kathmandu sitze ich im Flugzeug der deutschen Botschaft zurück nach Frankfurt. Die Nerven in den Fingern sind nach einem halben Jahr vollständig nachgewachsen.